Ganzheitliches Mobilitätskonzept für Wiesbaden

Nach dem Entscheid gegen die CityBahn: Ganzheitliches Mobilitätskonzept für Wiesbaden

Die Wiesbadener haben am 1. November 2020 mit überwältigender Beteiligung und Mehrheit gegen den Bau einer Straßenbahn von Mainz über die Innenstadt nach Bad Schwalbach gestimmt. So emotional die Debatte auch geführt wurde: Wunsch der Befürworter und Gegner der “CityBahn” sollte es nun sein, ein belastbares Mobilitätskonzept zur Stärkung der Attraktivität von Stadt und ländlichem Umfeld zu erarbeiten. Ich habe hierzu bereits im August 2018 während einer Veranstaltung der IHK auf sinnvollere Alternativen hingewiesen und dafür großen Zuspruch der Anwesenden erhalten.

Nachdem nun insbesondere von Bad Schwalbach der neue, alte Vorschlag zur Aartalbahn geäußert wurde, deren Reaktivierung mein Unternehmen übrigens 1994 detailliert untersucht und befürwortet hatte, fasse ich anschließend nochmals meine Vorschläge zusammen. Sie sollen als Anregung und vor allem aber dazu dienen, dass nicht nur Einzelmaßnahmen diskutiert werden, sondern ein in sich geschlossenes Mobilitätskonzept. Mit weniger sollten und dürfen wir uns nicht zufriedengeben.

I. Rolle der Schiene – Stadtbahn Wiesbaden
Die Entscheidung gegen die “CityBahn” (die ja auf der Mainzelbahn-Spur von 1.000 mm fahren sollte) ist keine Entscheidung gegen die Schiene insgesamt, die üblicherweise auf einer Spurweite von 1.435 mm fährt und im Raum Wiesbaden reichlich zur Verfügung steht. Im Gegenteil!
 

  • Aartalbahn: Als “richtige”, normalspurige Eisenbahnstrecke – die sie ja ursprünglich war und bis heute ist – lässt sie sich mit bestehenden Eisenbahnstrecken verbinden. Wie von meiner Firma untersucht, kann sie mit überschaubaren Kosten ertüchtigt werden, ob nur noch bis zum Bahnhof Dotzheim oder auch bis WI-Hbf, bleibt im Detail zu prüfen. Auch die Anbindung bis Diez wäre zu diskutieren – in den 90er Jahren jedenfalls hat eine Ertüchtigung nur bis Hohenstein Sinn gemacht. Eine Elektrifizierung braucht es im Zeitalter alternativer Antriebe, hier insbesondere der grünen Wasserstofftechnik, nicht unbedingt (siehe Abschnitt V). Das gilt auch für die…
  • Ländchesbahn: Diese ebenfalls eingleisige Strecke von WI-Hbf bis Niedernhausen kann nach Norden über die Main-Lahn-Bahn, Idstein und Bad Camberg ohne Umsteigen anschließend bis Limburg geführt werden. Eine Idee wäre, die Strecke ab Igstadt über einen Abzweig via Nordenstadt auf die Neubautrasse südlich der A66 zu führen und im weiteren Verlauf das Ostfeld am nördlichen Rand und dann über autonome Quartierbusse (siehe Abschnitt III) anzuschließen. Das Ganze passiert dann über 2 gekoppelte Triebzüge, die sich in Südrichtung in Igstadt auf die beiden Routen teilen bzw. v.v. wieder gekoppelt werden. Für den Wasserstoff notwendige Tankanlagen können übrigens günstig gebaut werden. TransCare war als Planer beim Bau der Tankanlage auf dem Gelände der Infraserv in Höchst beteiligt.
  • Wallauer Spange: Mit dem Bau bieten sich hier endlich wettbewerbsfähige ÖPNV-Verbindungen zum Flughafen an. Übergänge zwischen Straßen- und Eisenbahn nach Karlsruher Vorbild sind möglich. Zusätzliche Haltepunkte können bestehende Strecken für den Nahverkehr attraktiver machen. Auch hier profitiert der Stadtteil Ostfeld – nicht nur beim Grundstückswert.
  • WI-Hbf – Rüdesheim: Auch diese Bahnstrecke muss in das Bahnkonzept integriert werden, ebenso wie die Strecke…
  • WI-Hbf – Flörsheim:Insgesamt entsteht so ein nachhaltiges Stadtbahnkonzept mit vergleichsweise geringen Eingriffen in die Infrastruktur und damit wenigen – wenn überhaupt – negativen Folgen für die Umwelt. Um dieses Stadtbahnkonzept zu unterstützen, benötigt es Umsteigemöglichkeiten vom Individualverkehr zur Bahn (P+R) und Anschlussmöglichkeiten zu weiter entfernten Wohngebieten (Quartierbusse & Umlaufbahnen)

 
II. Anschluss an den Individualverkehr – P+R
Mit neuen ÖPNV-Stationen können auch mehr Park-and-Ride-Plätze schon weiter außerhalb der Stadt geschaffen werden als heute. Das gilt überall entlang der in Abschnitt I genannten zur Stadtbahn Wiesbaden integrierten Bahnstrecken. Diese Plätze können auch sehr günstig als Parkhäuser, direkt über den Stationen liegend (Stahlbau), errichtet werden. Echterdingen südlich von Stuttgart kann hier als Vorbild dienen.
 
III. Anbindung der Innenstadt
Die Innenstadt braucht starke Durchmesserlinien. Zwischen Ost und West kommt dafür vor allem die Achse Dotzheimer Straße – Luisenstraße/Friedrichstraße/Rheinstraße – Bierstädter Straße in Betracht. Eine reaktivierte Aartalbahn müsste in Dotzheim mit dieser Achse verbunden werden, um die Innenstadt auch ohne Umweg über den Hauptbahnhof zu erreichen. Das ist schon deshalb relevant, weil fast ein Viertel der rund 78.000 Einpendler nach Wiesbaden aus dem Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein etc.) kommt. Ebenso wichtig ist eine starke Nord-Süd-Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Kureck.

Das heutige Wiesbadener Bussystem besteht hauptsächlich aus radialen Linien. Es ist schon mehrfach untersucht worden, inwieweit mehr tangentiale Linien die Innenstadt entlasten könnten. Diese Überlegungen sind weiterzuentwickeln und endlich umzusetzen. Fahrzeiten können außerdem kürzer werden, wenn aus der Stadt kommende Linien in der Peripherie nicht mehr ganze Wohngebiete bedienen müssen. Dazu können ((teil)autonome)) Quartierbusse beitragen, die die Bürger individuell bis zu 50 m an ihr Ziel bringen. Wo darüber hinaus noch Bedarf nach schnelleren Verbindungen besteht, können Expressverbindungen mit wenigen Halten zu Kernzeiten, eventuell auch digital gekoppelt („Platooning“), weiterhelfen.
 
IV. Alternativen zu Straßenbahn und Bus
Angesichts der beengten Platzverhältnisse in der Innenstadt sollten auch unkonventionelle Ansätze geprüft werden. Eine Seilbahn mag zunächst exotisch anmuten. Allerdings ist das Beispiel von La Paz in Bolivien eine nähere Betrachtung wert: Hier werden heute 3.000 Personen pro Stunde und Richtung befördert; auf zehn Linien sind das täglich 250.000 bis 300.000 Fahrgäste. Auch die Reisegeschwindigkeiten um 14 km/h halten dem Vergleich mit dem konventionellen Bussystem stand: So ist man heute auf der schnellsten Busverbindung Hauptbahnhof mit nur rund 11 km/h unterwegs. Bedenken wegen der Privatsphäre der Anwohner sind natürlich zu beachten.
In Wiesbaden erscheint zunächst die Nord-Süd-Achse Wilhelmstraße – Friedrich-Ebert-Allee – Hauptbahnhof interessant, mit Verbindung zu anderen Verkehrsmitteln auf der Ost-West-Achse wie z.B. dem Dotzheimer Bahnhof oder der Bierstädter Höhe. Es besteht eventuell Potenzial für Erweiterungen nach Norden (Neroberg) und Westen (Horst-Schmidt-Kliniken). Wenn eine Seilbahn Vorteile hat – wo sollten sie besser zur Geltung kommen als im hügeligen Wiesbaden? Das gilt auch beispielsweise beim Anschluss von Hochheim an die am Main (Südstadt) gelegene S-Bahn- und zukünftige Stadtbahn-Station.
 
V. Energieträger
Ob Bahn oder Bus: Die Frage nach dem besten Energieträger ist noch nicht endgültig geklärt. Insbesondere beim Wartungsaufwand bestehen noch Unsicherheiten. Grundsätzlich brauchen mit Wasserstoff und Brennstoffzelle betriebene Züge mehr Energie als aus der Oberleitung versorgte. Sie können trotzdem als wirtschaftlich vorteilhaft erscheinen, wo der Elektrifizierungsaufwand hoch eingeschätzt wird und Wasserstoff lokal günstig als Nebenprodukt der chemischen Industrie verfügbar ist (wie bei den Zügen, die ab Ende 2022 auf der Taunusbahn fahren sollen). Insbesondere bei Bussen bieten sich technologieoffene Ausschreibungen an. Dabei sind aus volkswirtschaftlicher Sicht alle Kosten einschließlich der Infrastruktur über einen angemessenen Lebenszyklus – unabhängig davon, wer sie trägt – zu betrachten.
 
VI. Fahrradverkehr
Die Innenstadt kann spürbar entlastet werden, wenn mehr Menschen für kurze Wege das Fahrrad anstelle des Autos wählen. Der heute verfügbare elektrische Antrieb macht diese Entscheidung noch leichter. Doch ob mit oder ohne Motor: Das Fahrrad ist nur attraktiv, wenn man zügig und sicher vorankommt. Deshalb müssen am Ende mit den oben genannten Maßnahmen die Straßen vom motorisierten Individualverkehr – einschließlich parkender Fahrzeuge – zumindest teilweise befreit werden. Dies darf aber eben erst dann geschehen, wenn die alternativen Mobilitätsangebote im Markt sind! In kleineren Straßen können alle Verkehrsteilnehmer eine gemeinsame Spur nutzen. Für Hauptachsen, zum Beispiel entlang der größeren Alleen in der Innenstadt, bieten sich separate Radspuren an, die aber aus Sicherheitsgründen niemals auf den Busspuren liegen dürfen. Im Umland muss – im Gegensatz zu den 1970er Jahren – heute gelten: Neue Radwege nicht auf stillgelegten Bahnstrecken einzurichten. Vielmehr sollten gesonderte Bikeways mit Flyover-Lösungen (Radbrücken über große Kreuzungen) und grüner Welle bei 20 km/h (siehe Kopenhagen) installiert werden. Radfahren ist einfach, günstig, zuverlässig und gesund.
 
VII. CityCard mit Mobilitätschip
Als Schirm über alles ist eine digitale Servicecard zu etablieren die mit dem RMV App und eTicket verlinkt ist. Diese CityCard (als Chip auf ei-ner Zahlkarte (IC, CC)) oder als App auf dem iPhone) dient als Zahlungsmittel beim Ein- und Ausstieg in das Mobilitätsangebot. Keine Ticketautomaten oder ähnlicher altertümlicher Quatsch. Im Übrigen ein wunderbares Instrument für den Einzelhandel. Darüber können dann auch logistische Funktionen (Lieferung der Einkäufe nach Hause, etc.) die spätestens nach Einführung einer vernünftigen City-Logistik zur Verfügung stehen werden, angeboten werden.
 
Als Gegenstimme zur CityBahn und Verkehrsexperte fühle ich mich verpflichtet, nicht nur „dagegen zu sein“, sondern Vorschläge zu machen, die helfen, die Bürger dieser Stadt bei diesem Thema wieder zu einen. Gerne stehe ich für weitere Erläuterungen oder Fragen zur Verfügung.
 

Ansprechpartner:
Ralf Jahncke
TransCare GmbH
Tel: +49 (0) 611 7634 163
E-Mail: r.jahncke@transcare.de

Link
“Citybahn Wiesbaden, Stellungnahme, Kalkulation

Downloads:
“Vorschläge für ein neues ganzheitliches Mobilitätskonzept
“Citybahn Wiesbaden, Stellungnahme, Text mit Kalkulation



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